AZIN SADATI-SCHMUTZER

Es sind Bilder, die die ganze Welt bewegen, und die größten Proteste seit Jahren: Seit dem Tod von Mahsa Amini am 16. September 2022 gehen viele Männer, Frauen, aber auch Kinder und Jugendliche im Iran auf die Straße, um für Freiheit und gegen die Regierung zu demonstrieren. 

Auch in der Region Stuttgart zeigen die Menschen Solidarität mit dem iranischen Volk. So sind in Ludwigsburg zwei Busse unterwegs, die das Konterfei von Mahsa Amini zeigen. Darüber hinaus finden regelmäßig Demonstrationen statt, denen inspirierende Redner*innen beiwohnen. Darunter die in Stuttgart lebende Künstlerin und Aktivistin Azin Sadati-Schmutzer. Mit ihr haben wir uns über die Hintergründe der Bewegung, die aktuelle Situation sowie Hoffnung und Mut unterhalten: 

Liebe Azin, kannst du dich zunächst für unsere Leser*innen vorstellen und ein bisschen was von dir erzählen? Wer bist du, wo kommst du her und wofür setzt du dich ein?

Ich bin Azin Sadati-Schmutzer. Ich komme aus der nördlichen Provinz des Iran, Mazandaran. Mazandaran, das ist der Ort mit den zweithöchsten Zahlen in Bezug auf die aktuellen Unterdrückungsmaßnahmen und der durch das Regime Getöteten in der aktuellen Revolution im Iran. Ich habe einen Bachelor-Abschluss in Bildhauerei von der Ferdowsi-Universität in Mashhad, einer der ältesten und renommiertesten Universitäten im Iran. Dann konnte ich an der Universität als Dozentin lehren. Gleichzeitig wurde ich in den Masterstudiengang Kunstökonomie aufgenommen. Ich habe in Teheran gelebt und in der Stadtverwaltung von Teheran bzw. „Beautification organization of the municipality of Tehran” gearbeitet. Nach Deutschland bin ich als Kunstaktivistin gekommen. Zu Beginn habe ich zu den Auswirkungen von Schillers Schriften auf den Libertarismus im Iran geforscht und hatte diesbezüglich 2017 eine Installation im Landratsamt Tübingen. Ich habe auch einen Kurzfilm über Kinderheirat und den systematischen Kindesmissbrauch im Iran gedreht, der im selben Jahr beim Reeperbahnfestival in Hamburg angenommen wurde. Dann habe ich vier Jahre in einem Bauunternehmen gearbeitet und derzeit bin ich in einem Amt im Bereich Buchhaltung angestellt.

Jeden Tag erreichen uns schreckliche Bilder und Videos aus dem Iran. Wie erlebst du all das, was dort aktuell passiert?

Soziale Netzwerke geben uns Iranern die Möglichkeit, der Welt zu zeigen, was im echten Iran passiert. Einige dieser Bilder erinnern mich an Szenen aus meiner Kindheit. Ich weine seit 90 Tagen vor Wut. Ich habe die Stimmen meiner Lieben seit 90 Tagen nicht gehört. Denn ein Filterbrecher ist für ältere Menschen nicht ohne Weiteres zugänglich. Direkte Schüsse, Folter und die Nachricht der Selbsttötung von Yalda Aghafazli, einer Demonstrantin, die gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war, haben mich gebrochen. Ihr wisst, wovon ich spreche: geistige und körperliche Folter. Videos der Jugend aus der Stadt Amol, die vor den Sicherheitskräften knien und ihre Brust spreizen und bereit sind, für die Freiheit des Iran getötet zu werden. Oder die neue Bewegung des Turbanwerfens der Mullahs. Ich bin überrascht von dem Mut dieser jungen Leute.

Ausgelöst wurden die Proteste und Demonstrationen durch den Tod von Mahsa Amini am 16. September dieses Jahres. Kannst du uns etwas mehr über die Zustände im Iran vor dem Fall „Mahsa Amini“ erzählen?

Das Leben im Iran ist voller Widersprüche. Auf der einen Seite gab es Freiheit zu Hause (für mich): Freiheit in Bezug auf Kleidung und Denken sowie Wahlfreiheit. Auf der anderen Seite Einschränkungen und Verbote in Schule, Uni, Arbeitsstätte, Gesellschaft – im gesamten öffentlichen Leben. Ich wurde mitten im Krieg zwischen Khomeini und Saddam geboren. Als ich ein Kind war, war der Besitz eines Videogeräts im Iran ein Verbrechen. Viele Güter waren Mangelware. So hat meine Mutter für mich und den Rest meiner Familie warme Sachen aus deutschen Zeitschriften nachgestrickt und meine Windeltücher in 100 Grad heißem Wasser gekocht, um sie zu desinfizieren. Propaganda, Antisemitismus, Anti-Bahá’í, Anti-Israel und Anti-Amerikanismus haben mich als Kind negativ beeinträchtigt. An Regentagen durften wir nicht zusammen auf dem Grundschulhof spielen, weil die Chefin der Schule sagte, dass Bahá’í und Juden schmutzig seien. Jeden Morgen mussten wir unsere kleinen Hände nach Khomeini ausstrecken, Khomeini grüßen und Israel sowie Amerika verfluchen. Mein Vater hat immer gesagt, dass ich in der Schule weder sagen solle, dass wir Verwandte in Amerika haben, noch, wie sehr ich Khomeini hasse, da mich das mein Leben kosten könnte. Vor 14 Jahren wurde mein Vater geschlagen und eingesperrt, weil er gegen den obligatorischen Hijab und die Sittenpolizei protestierte. Mein Vater starb ein paar Jahre später in Sehnsucht nach der Freiheit des Iran – das wird immer in mir bleiben. 

Alkoholkonsum ist im Iran ein Verbrechen! Wenn jemand dreimal wegen Alkoholkonsums erwischt wird, wird er oder sie ausgepeitscht und hingerichtet. Geschlechterdiskriminierung, Meinungskontrolle, Ungleichheit bei den Arbeitsmöglichkeiten, seelische und körperliche Folter, Vergewaltigung – leider sind das Alltäglichkeiten im Mullah-System des Iran. Frauen haben kein Recht auf Scheidung und kein Sorgerecht für Kinder. Einen Pass zu bekommen, ist nur mit Zustimmung des Ehemanns möglich und der Ehemann kann der Ehefrau die Ausreise verbieten. Frauen müssen bei allen Beschäftigungen außer in Friseursalons, Schwimmbädern und Frauenclubs ein Kopftuch tragen. Die Menschen werden ideologischen Interviews für Verwaltungsjobs unterzogen und sind gezwungen, Khamenei, der Regierung, den islamischen Gesetzen und der Propaganda des Regimes zu gehorchen. Ein vollwertiges Militärregime, das Gegner im Namen von „Moharebeh“ und der Opposition gegen Gott/Khamenei hinrichtet.

Auch in der Vergangenheit gab es immer wieder Unruhen im Iran – so zum Beispiel im November 2019, nachdem die Regierung einen starken Anstieg der Benzinpreise angekündigt hatte. Vergangene Unruhen hielten im Gegensatz zu den aktuellen Protesten und Demonstrationen nur kurz an. Was ist jetzt anders?

Der Hauptunterschied liegt meiner Meinung nach in der Art des Kampfes. In diesem Sinne ist es eine Frauenrevolution, weil sie sich auf die Gleichstellung der Geschlechter konzentriert. Etwas, das das Regime und seine Verbündeten seit 43 Jahren mit ideologischen Parolen zu zerstören versuchen. Einige revolutionäre Frauen trugen 1979 Hijab, um gegen den Imperialismus und Amerika zu kämpfen. Und sie zensierten die Stimmen von Frauen gegen den obligatorischen Hijab in den ersten Jahren nach der Revolution. Diese Frauen haben uns gesagt: 

„Hey, jetzt ist nicht deine Zeit, der Lebensunterhalt ist wichtiger“.

Aber die aktuelle Iranische Revolution zeigt, dass wir kein Brot ohne Freiheit wollen. Im Allgemeinen hängen unser Brot und unsere Wirtschaft von der Freiheit und Gleichheit der Geschlechter ab. Wenn eine Frau ohne Hijab keine Lehrerin, Universitätsprofessorin, Schauspielerin, Ingenieurin, Ärztin usw. sein kann, dann steht der obligatorische Hijab in direktem Zusammenhang mit der Wirtschaft von Frauen und Familien. Die Iranerinnen kämpfen nicht nur gegen den aufgezwungenen Hijab und Turban der Mullahs, sondern auch gegen die anderen Hauptsäulen der Islamischen Republik Iran. Aber was diese Revolution von vielen Protesten und anderen Revolutionen unterscheidet, ist, dass unsere Männer an der Seite von Frauen und der queeren Community für Frau, Leben und Freiheit kämpfen.

Hast du Bekannte oder Verwandte im Iran? Wenn ja, wie erleben sie die aktuelle Situation?  

Meine Mutter und andere Mitglieder meiner Familie, Freunde usw. leben im Iran. In den wenigen Jahren, die ich in Deutschland lebe, habe ich nie Heimweh verspürt, seit nunmehr 90 Tagen aber zittere ich und vergieße Tränen für den Iran, mein Volk, die persische Sprache und die Sprache meiner Provinz, Mazandarani. Als eine Auswanderin habe ich mein Heimatland verlassen, um in Freiheit und Gleichheit zu atmen, aber mein Land hat mich nicht verlassen. Der Iran brennt in meinem Herzen und dies ist ein gemeinsamer Schmerz für Millionen von Iraner*innen innerhalb und außerhalb des Iran.

Wieso brauchen uns die Menschen im Iran? Wieso ist es so wichtig, dass dem Thema auch in Deutschland weiterhin Aufmerksamkeit zuteil wird?

Kalifornien, Paris, New York, London und Berlin sind bekannte Regionen und Städte der iranischen Opposition gegen das Regime. Natürlich sind sich die Behörden dort den Wünschen der iranischen Einwander*innen und Flüchtlinge bewusst. 

Aber es ist mir wichtig, dass dem Thema der Iranischen Frauenrevolution und dem Motto „Frau, Leben, Freiheit“ auch in kleineren Städten wie Stuttgart Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Islamische Republik Iran soll wissen, dass die kleine iranische Gesellschaft in Stuttgart wach ist. Meiner Meinung nach kann die Beachtung der Menschenrechte von uns iranischen Einwander*innen durch Politik und Kommunen unserer Präsenz als verantwortungsbewusste und achtenswerte Bürger*innen in unserem zweiten Land und unserer zweiten Stadt und damit auch der Integration helfen.

Unser Bundeskanzler Olaf Scholz hält sich mit Äußerungen zu den Protesten sehr zurück. Wenn du konkrete Forderungen an ihn stellen könntest, wie sähen diese aus?

Meiner persönlichen Meinung nach stehen hinter dem Reden und Reagieren seitens der Politik immer menschenrechtliche Ansätze. Ich hoffe, sie machen einen Schritt nach vorne und treffen wirksame Entscheidungen. Dem Regime müssen die wirtschaftlichen Fähigkeiten der Islamischen Republik Iran genommen werden, damit die Etablierung von Gleichheit und Freiheit für das iranische Volk beschleunigt werden können. Denn die Islamische Republik nutzt ihre Wirtschaftskraft im Bereich von Waffen, Folter, Terrorismus und Bedrohung sowie für erzwungene Geständnisse.

Was gibt dir Hoffnung?

Der Slogan „Frau, Leben, Freiheit“. Geschlechter- und wirtschaftliche Gleichstellung sowie Verwirklichung der Grundrechte von Kindern. Der Tag, an dem wir keine Kinderarbeit, Kindersoldaten und Kinderheirat mehr haben. Der Tag, an dem Frauen, Männer und unsere LGBTQ+ und geschlechtsspezifischen Minderheiten im Iran-Parlament, in Ministerien, Organisationen, Universitäten und Schulen gleiche Chancen genießen. Der Tag, an dem das mittelalterliche Regime nicht länger über mein Heimatland herrscht und menschliche Gesetze sowie Gerechtigkeit für alle gleich sind. Der Tag, an dem niemand hingerichtet oder ausgepeitscht wird. Der Tag, an dem keine Gesetze gegen Frauenkörper erlassen werden. Der Tag, an dem unsere Katzen und Hunde nicht getötet werden und unsere Umwelt geschützt wird. Dann träume ich von dem Tag, an dem ich durch die Reisfelder meiner Heimatstadt Sari in Mazandaran wandern kann. Dem Geruch von Reisfeldern. Dem Duft von Orangenbäumen im April am Südrand des Kaspischen Meeres. Und dem Klang unserer Katzen in den Straßen und Gassen des Iran.

Was möchtest du noch loswerden?

Seit vielen Jahren ist in den großen Städten der Welt die Empathie für die Iraner*innen als Symbol der Freiheit etabliert. Amerika und Kanada sind auf diesem Gebiet führend. Am 12. Oktober hisste ein Bürgermeister von Ontario die Löwen- und Sonnenflagge des Iran. In der Schweiz und in Holland wurde das Lied von Shervin Hajipour, untermalt von dem Bild von Jina Mahsa Amini und den Farben der iranischen Flagge, an den Bahnhöfen gespielt. Vielleicht wäre es gut, wenn sich Stuttgart überlegen würde,

„Frau, Leben, Freiheit“

mit den drei Farben Grün, Weiß und Rot zu präsentieren, da er ein universeller Slogan ist. Feminismus ist transnational und global. Und der Erfolg der feministischen Iranischen Revolution kann zur Gleichstellung der Frauen im Nahen Osten, in Afghanistan und Nordafrika führen. Und indem sie Gleichberechtigung lehrt und fördert, wird sie eine besondere Wirkung auf die nächsten Generationen von Einwander*innen in Europa haben.

Das Angebot von Beratung, Sozialdienste und die Aufmerksamkeit der Kommunen können unseren Schmerz ein wenig lindern, damit wir stark bleiben und weiterkämpfen können. Der 21. März ist Nowruz. Fest des Neujahrs für uns Iraner. Nowruz bedeutet neuer Tag. Es bedeutet, die Dunkelheit des Winters loszuwerden. Es wird der Fall sein, dass wir in diesem Jahr, wie 2019, viele junge Menschen durch Morde des Regimes verloren haben. Vielleicht kann die Schaffung eines Raums für das iranische Nowruz durch iranische Menschenrechtsaktivist*innen der deutschen Gesellschaft zeigen, welcher der Kurs seit Tausenden von Jahren ist und warum wir uns nicht auf die historischen Elemente der Vergangenheit konzentrieren, sondern die Konzepte von Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit für die Entwicklung unseres Mutterlandes betonen.