Pünktlich zu unserem zehnjährigen Magazin-Jubiläum stellen wir eine neue Rubrik vor: Blickwinkel. Hier kommen Stuttgarter*innen aus unterschiedlichsten Bereichen – Politik, Kultur, Wirtschaft oder Bildung – zu Wort. Wir möchten zeigen, wie vielfältig, inspirierend und manchmal auch herausfordernd das Leben in Stuttgart sein kann.
Zum Auftakt haben wir mit Dr. Michael Blume, dem Beauftragten der Landesregierung gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben, gesprochen.
Dr. Michael Blume wurde 1976 in Filderstadt geboren und studierte nach einer Bankausbildung Religions- und Politikwissenschaften in Tübingen.
Dort promovierte er auch zu Religion und Gehirnforschung. Seit 2023 arbeitet er im Staatsministerium Baden-Württemberg und leitete von März 2015 bis Juli 2016 die Projektgruppe „Sonderkontingent für besonderes schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“. Bis Juni 2020 war er Leiter des Referats „Nichtchristliche Religionen, Werte, Minderheiten, Projekte Nordirak“.
Im Interview sprechen wir über die wachsenden Herausforderungen durch Antisemitismus und Populismus auf Social Media – und wie Stuttgart und die Region darauf reagieren können.
Wie würden Sie Stuttgart in 3 Worten beschreiben?
Stuttgart ist für mich einerseits Zentrum, Vielfalt und hat einen gewissen Glanz.
Was wäre aus Stuttgart nicht wegzudenken und warum?
Das ökologische Bewusstsein! Das Wissen darüber, dass unsere Ressourcen endlich sind. Ich bezeichne mich als „Solarpunk“, also als einer der versucht wegzukommen von den fossilen Rohstoffen. Ich habe 2015/2016 im Irak ein humanitäres Projekt geleitet und gesehen, was die Klimakrise anrichtet, heute schon. Und wie sie Staaten und Gesellschaften zerstört. Deshalb darf Stuttgart dieses Bewusstsein nie verlieren. Immer mehr Menschen engagieren sich für eine positive, post-fossile Zukunft ihrer jeweiligen Heimat. Niemand kann alles, aber alle können etwas gegen Verschwendung tun.
Wie kann man die*den typische*n Stuttgarter*in beschreiben? Was sind ihre*seine Bedürfnisse?
Als Religionswissenschaftler sehe ich natürlich noch immer die evangelische Prägung der Stuttgarter*innen. Zudem ist das Motto „Schaffa Schaffa, Häusle baua“ bei vielen noch sehr präsent. Aus diesem Grund gibt es oft zu wenig Zeit für die Freizeit. In der versucht man oft, sinnvolle Dinge zu tun, wie zum Beispiel Aktivitäten in Kultur und Kunst. Grundsätzlich befürworte ich das auch, aber manchmal könnten wir Stuttgarter*innen etwas leichter und dankbarer sein.
Wo macht Stuttgart einen guten Job, wo gibt es noch Handlungsbedarf?
Einen guten Job macht Stuttgart dahingehend, dass man hier gut leben, arbeiten und Geld verdienen kann. Ich wünsche mir aber, dass wir in Stuttgart und ganz Baden-Württemberg noch Vorreiter in Sachen Bürokratieabbau werden. Es ist schon so, dass wir bundesweit angesprochen werden, dass unser Ruf, die Dinge schnell und ordentlich zu erledigen, in letzter Zeit sehr gelitten hat.
Freiburg hat es zum Beispiel schon geschafft, die Verwaltung komplett zu digitalisieren. Das Digitalisierungsdilemma ist natürlich ein bundesweites, wenn nicht sogar ein europaweites Problem, das Stuttgart nicht alleine lösen kann. Aber wir haben ja den Ruf als Schwaben, diejenigen zu sein, die neue Lösungen austüfteln. Für mich ist es schmerzhaft, dass dieser Ruf des Denkens und Erschaffens momentan sehr leidet. Dazu gehört auch, dass ich ein französisches Elektroauto fahren „muss“, weil es noch kein Stuttgarter Autobauer geschafft hat, ein familientaugliches Elektroauto anzubieten. Ich hoffe, das ändert sich schnell.
Welche Werte oder Prinzipien sind Ihnen besonders wichtig, wenn Sie über Stuttgart und seine Zukunft nachdenken?
Einerseits Leistung, andererseits aber auch Familie. Ich möchte hier nicht weg und fühle mich sehr wohl. Dafür habe ich sogar Angebote aus der Bundespolitik ausgeschlagen, weil meine Familie und ich hier in der Region Stuttgart bleiben möchten. Ich glaube allerdings, dass wir uns nicht ausruhen dürfen und wieder an unseren Stärken anknüpfen müssen.
Was hat Sie persönlich motiviert, sich gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben einzusetzen?
Zum einen natürlich der Geschichtsunterricht in der Schule. Ich dachte eigentlich, wir hätten den Antisemitismus überwunden. Als Religionswissenschaftler war ich auch für die jüdischen Gemeinden zuständig und habe dort enge Freundschaften gepflegt. So richtig bewusst geworden ist mir das Thema bei meiner Tätigkeit im Irak. Dort sind alle jüdischen Gemeinden mittlerweile vernichtet. Einst bildeten die Juden und Jüdinnen im Irak eine einflussreiche Minderheit. Die Geschichte der Juden und Jüdinnen im Irak ist nochmal 1.000 Jahre älter als die der Juden in Deutschland.
Im Irak ist mir klar geworden, dass der Antisemitismus immer noch in vielen Köpfen ist und sogar in einem Land, in dem es gar keine jüdischen Gemeinden mehr gibt. Als ich 2016 zurückkam, begann ich zu recherchieren, Bücher zu schreiben, Vorträge zu halten, mich gegen den Antisemitismus zu engagieren. Deswegen wurde ich dann von den jüdischen Gemeinden Baden-Württembergs als erster Antisemitismus-Beauftrager vorgeschlagen.
Welche besonderen Herausforderungen sehen Sie in Stuttgart in Bezug auf Diskriminierung und Toleranz?
Das häufigste Vorurteil ist, dass Bildung vor Antisemitismus schützen würde. Das stimmt nicht und war auch nie so. Antisemitismus ist aus Bildungsneid entstanden. Das Judentum war die erste Religion der Alphabetisierung. Jedes Kind hat lesen und schreiben gelernt. Der Begriff Bildung kommt ja aus dem ersten Buch Mose: Der Mensch sei im Bilde Gottes erschaffen. Dass Bildung nicht vor Antisemitismus schützt, haben wir ja bei den Nazis gesehen. Die Mehrheit der Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz – hohe Offiziersränge – waren Akademiker. Herzensbildung schützt vor Antisemitismus, nicht die rein formale Bildung.
Wie kann Stuttgart zu einem Vorbild für andere Städte im Umgang mit Antisemitismus und Diskriminierung werden?
Ich glaube, Stuttgart ist das bereits. Seit Oberbürgermeister Manfred Rommel haben wir eine Tradition der Vielfalt, eine sehr aktive Integrationspolitik, einen Rat der Religionen. Bürgermeisterin Isabel Fezer leitet das Referat für Jugend und Bildung und engagiert sich z.B. für den christlich-jüdischen Dialog und gegen Antisemitismus. In meiner Wahrnehmung ist Stuttgart hier schon auf einem guten Weg.
In Stuttgart gibt es mittlerweile Medien, die Verschwörungsmythen verbreiten (darunter auch antisemitische Verschwörungsmythen), z.B. wurde der Podcast „Hoss & Hopf“ auf TikTok wegen gefährlicher Falschinformationen und gefährlicher Verschwörungstheorien gesperrt – wie kann man damit umgehen?
Ich bitte die Menschen, sich damit kritisch auseinanderzusetzen und vor allem junge Männer zu schützen, denn bei ihnen gibt es die größte Radikalisierung, nicht nur in Stuttgart, sondern weltweit. Dieses Phänomen heißt Thymotisierung. Thymos ist ein Ausdruck für die Gemütsanlage eines Menschen und wurde unter Platon als „von Gott gesteuert“ definiert. Es meint das aufbrausende Sich-behaupten-Wollen, das Alpha-Gehabe unter Männern, das Streben nach Anerkennung. Entsprechend dem jafetitisch-platonischen Thymos als meist männlich gelesener Statuseifer, Ehrgeiz und auch gewaltbereite Wut spreche ich hier von einer digitalen Thymotisierung, die sich in der Verteidigung vermeintlich besserer „Früher” wähnt und sich also von der linearen zurück zur zirkulären Zeit wendet.
Digitale Medien beschleunigen diesen Wunsch und machen dopaminsüchtig. Adrenalin und Testostoron fließen, die Menschen werden dauerempört, zornig und suchen Schuldige. Durch reißerische Headlines wie in dem Podcast (Epstein-Verschwörung, Brunnenvergiftung, Drohung des dritten Weltkriegs etc.) werden hier junge Männer manipuliert. Der Podcast ist Teil einer rechtslibertären Subkultur, die vor allem junge Männer anzieht und den „Bitcoin als Befreiungsbewegung“darstellt.
Wie erklären Sie sich diese Reichweite derartiger Podcasts vor allem bei jungen Menschen?
Finanzbildung ist bei uns leider miserabel. Man lernt es nicht richtig in der Schule, wie Geld funktioniert. Und dann gibt es diese Finfluencer (Finanzinfluenzer), auch „Kryptobros“, die dir erklären, wie du reich wirst. Sobald man einer Aussage widerspricht, ist man sofort ein Verschwörer. Solche Podcasts nutzen bewusst Verschwörungsmythen, um Anhängerschaft aufzubauen, die im besten Fall ihre Finanzprodukte kauft. Und das halte ich für sehr gefährlich.
Auf Social Media werden populistische Meinungen immer stärker – dank der Algorithmen wird auf TikTok und Youtube ja generell häufiger Content ausgespielt, der für User Engagement sorgt. Was kann man dagegen tun?
Wie schon vorhergehende Medienrevolutionen, wie der Buchdruck bis zum 30-jährigen Krieg und die elektronischen Medien im späten 19. und 20. Jahrhundert, löst nun auch die Digitalisierung eine enorme Beschleunigung und “Enge der Zeit”, im Deutschen gar: “Hetze” (!) aus. Der Holocaust-Überlebende Hans Blumenberg hat es so formuliert:
„Enge der Zeit ist die Wurzel des Bösen.“
In den überbeschleunigten Medien haben die „Lauten“ eine größere Reichweite. Es bilden sich regelrechte Kokons von Gruppen, die sich online radikalisieren. Was man dagegen tun kann, ist genau hinschauen, kritisch bleiben und nachdenken. Das Leben und die Politik ist komplizierter, als es auf Social Media dargestellt wird. Wir müssen wieder raus aus diesem Dualismus des Schwarz-Weiß-Denkens. Die Radikalisierung findet mittlerweile nicht mehr in der Gesellschaft statt, sondern im Netz, auf TikTok und YouTube. TikTok zu verbieten, halte ich für den falschen Weg in einer freiheitlichen Gesellschaft. Wichtig ist, dass sich jede*r Einzelne hinterfragt, wie man verantwortungsvoll Social Media konsumiert und auch produziert.
Haben Sie noch einen Geheimtipp für alle, die mit Verschwörungsschwurbeleien nichts am Hut haben möchten?
Seit März 2020 kläre ich in meinem regelmäßigen Podcast „Verschwörungsfragen“ über verschiedene Aspekte der Themen Antisemitismus und Verschwörungsmythen auf. Außerdem kann ich das „Spektrum der Wissenschaft“ empfehlen, auf dem ich regelmäßig blogge.
Haben Sie noch einen positiven Ausblick für uns?
Momentan gibt es einen enormen Run auf Weihnachtsfilme auf den Streamingplattformen. Die erfolgreiche Autorin und Archäologin Gail Carriger spricht hier von der Held*innenreise, bei der am Ende die Liebe siegt. Die Menschen sehnen sich angesichts der weltpolitischen Lage, des stressigen Alltags und des schnellen Social Media-Klick-Marathons nach Ruhe, Gemeinschaft und Liebe. Und das finde ich beruhigend.