TORSTEN POGGENPOHL

Eine junge Frau teilt ihrer Kosmetikerin mit, dass sie einen neuen Job bei der Aidshilfe hat. Die Kosmetikerin gibt ihr daraufhin zu verstehen, dass sie die junge Frau lieber nicht mehr behandeln möchte. Ein psychisch erkrankter Mann wird in einem Vorstellungsgespräch nach der Lücke in seinem Lebenslauf gefragt. Nachdem er von einem Aufenthalt in einer Einrichtung für Menschen mit psychischer Erkrankung erzählt, erhält er eine Absage. Ein Profi-Fußballer bekennt sich zu seiner Homosexualität. Fortan schlagen ihm Hassnachrichten im Netz und homophobe Fangesänge im Stadion entgegen.

Stigmata gibt es viele. Leider, immer noch – und ganz ehrlich? Das schmerzt. Sperren wir Stigmatisierung aus, verstärken wir sie und vergrößern im selben Atemzug das Leiden der Betroffenen. Wie können wir ihr also richtig begegnen? Der 42-jährige Autor und Stuttgarter Torsten Poggenpohl ist überzeugt, dass man Stigmata nur bekämpfen kann, wenn man mit dem eigenen Gesicht hervortritt und die eigene Geschichte erzählt. In seinem autobiografischen Debütroman „einfach!ch schwul.bipolar.positiv“ hat er genau das gemacht! Schonungslos offen berichtet er von seinen letzten sieben Lebensjahren, in denen ihm zeitgleich eine bipolare Störung in einer schweren manischen Verlaufsform und eine HIV-Diagnose mit dramatischen Werten diagnostiziert wurden.

Wir haben mit Torsten über den „Karneval der Synapsen“, seinen Kampf ums Überleben sowie die Welt seiner Therapien gesprochen. Was am Ende bleibt, sind Mut, Zuversicht und die Einsicht, dass es uns nicht schwach macht, unsere verletzliche Seite zu zeigen – es macht uns menschlich.
Lieber Torsten, die Doppeldiagnose HIV und bipolare Störung hat dich, wie du in deinem Buch schreibst, aus einem gutbürgerlichen Leben an „den Abgrund der Gesellschaft“ katapultiert. War das dein persönlicher Eindruck oder gab es Situationen, die in dir das Gefühl ausgelöst haben, nicht länger dazuzugehören?

Das hatte nichts mit meinen Gefühlen zu tun – der „Abgrund der Gesellschaft“ war meine bittere Lebensrealität. Durch die schwere Manie hatte ich nicht nur meinen Job als Gebietsverkaufsleiter für eine Luxusduftfirma, sondern auch meine wunderschöne, kernsanierte Altbauwohnung verloren. Gewonnen hatte ich dafür in vier Monaten Manie Schulden in Höhe von über 200.000 Euro.

Zu meiner Manie kam dann ja noch die lebensbedrohliche HIV-Diagnose mit den Werten 16 Helferzellen gegen fünf Millionen Viren – das war kurz vor Tod.  Der Soundtrack dieser Zeit wurde „Set fire to the rain“ von Adele und ich selbst erlebte in dieser Zeit natürlich Momente der Einsamkeit. Am Überleben hielt mich mein Kampfgeist, ja, mein Wille zum Leben und letztendlich meine Manie. Für Schwermut war gar keine Zeit, da meine Manie – von der ich nicht wusste, was es eigentlich ist – mich quasi in den Strudel des Lebens einsog und erst Monate später wieder ausspucken sollte. 

War die Stigmatisierung die treibende Kraft, ein Buch zu schreiben und mit Vorurteilen gegenüber deinen Krankheiten aufzuräumen, oder hattest du auch andere Beweggründe?

Dieses Buch ist ein Herzensprojekt, welches ich schon lange vor dem Coronalockdown realisieren wollte. Allerdings fehlte mir immer die nötige Zeit – als der Lockdown mir diese schenkte, nutze ich den Winter und schrieb das Manuskript. Ein Hauptbeweggrund war sicher Entstigmatisierung, da ich davon überzeugt bin, dass man Stigmata nur bekämpfen kann, wenn man hervortritt und seine Geschichte erzählt. Wenn Leute mit dir und deiner Geschichte konfrontiert werden, geraten sie bestenfalls mit ihrer eigenen Meinung über das Thema in den Dialog und können diese ändern. Neben dem Kampf gegen Stigmatisierung war es mir aber auch unglaublich wichtig, ein Buch zu schreiben, das Betroffenen oder deren Angehörigen Mut macht und Zuversicht schenkt. Ich habe ja kein Sach- oder Fachbuch geschrieben, sondern einen autobiografischen Roman. Im Grunde möchte ich die bipolare Störung von innen heraus erklär- und greifbar machen. Das Unbeschreibliche beschreiben, mit meinen Worten erklären und, wie gesagt, einfach Mut machen und Zuversicht schenken. Denn die gute und wichtige Nachricht: Wir leben im Jahr 2022 und diese Erkrankung ist gut therapierbar. Sprich, wenn man sich an die Regeln hält, kann man den Marathon seines Lebens auch als bipolarer Mensch gut bewältigen.  

Was hat sich verändert, seit du offen mit deinen Krankheiten und deiner Sexualität umgehst? Zum einen im Außen, vor allen Dingen aber auch für dich selbst?

Ich bin bei mir selbst angekommen und mit mir selbst im Reinen. Man könnte auch sagen, dass ich mir eine gewisse Idiotenunverträglichkeit gönne. Soll heißen, ich gehe sehr proaktiv mit meinen Erkrankungen und natürlich auch mit meinem Schwulsein um. Wer damit ein Problem (im Übrigen sein Problem) hat, möge dieses bitte nehmen und mein Leben verlassen. 

Menschen, die mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind, fehlt es meist nicht an dem Wunsch, loszugehen und ihr Leben umzukrempeln, sondern an dem Mut, es zu tun. Wer oder was hat dir geholfen, mutig zu sein?

In der Tat hat sicher jede*r einen Moment im Leben, der einem den Rücken stärkt – oder ab dem sich alles verändert. Ein Meilenstein meiner Entwicklung waren die Positiven Begegnungen 2018 in Stuttgart. Hinter diesem Begriff verbirgt sich der größte Betroffenen-HIV-Kongress Europas. Von diesem bin ich mit einem Schutzschild in Bezug auf menschliche Dummheit in puncto HIV nach Hause gegangen. Und genau das hat mich bis heute mutig gemacht, so offen mit mir selbst umzugehen.

Hattest du auch Angst vor Ablehnung? Wenn ja, wie bist du damit umgegangen?

Angst vor Ablehnung hat mein Leben noch nie bestimmt. Ich bin ein sehr kommunikativer, proaktiver Mensch, der gerne neue Leute kennenlernt. Das Einzige, was mich je zum Schweigen gebracht hat, war meine schwerste Depression, in der ich meine Kommunikationsfähigkeit verloren habe. Aber Angst vor Ablehnung? Nein, die habe ich nie besessen.

Welche Reaktionen hast du auf „einfach!ch schwul.bipolar.positiv“ bekommen? Erinnerst du dich an einzelne Momente, in denen du gespürt hast, dass es genau richtig war, deine Geschichte zu erzählen?

Bislang gab es hunderte positive und lediglich 3 negative Kritiken zu meinem Buch. Die Quote spricht also durchaus für mich und mein Buch. Ein paar Momente und Rezensionen, die mich besonders berührt haben: 

Die Abiturient*innen, die freiwillig sitzen geblieben sind, um mir weitere Fragen zu stellen, obwohl sie genauso gut hätten ins Freibad gehen können. Eine Schriftstellerin, die mir schrieb: „Ergreifend gut. Mir fehlen die Worte und ich habe sonst immer welche.“ Der HIV-positive Lehrer, der sich für meine Offenheit und meinen Mut bedankt, da er in seinem Lebenssetting nicht so offen damit umgehen kann – es aber Menschen wie mich bedarf, die mit ihrem Gesicht ihre Geschichte erzählen und zu einem Umdenken in der Gesellschaft beitragen. Eine Dame, die gerade in einer psychischen Klinik war und fünf Bücher samt Widmung für Töchter, Schwester und Freundinnen kaufte, da sie sich in mir wiedergefunden hat und in ihrem Lebensumfeld mehr Verständnis für die eigene Erkrankung schaffen wollte. Oder der Herr, der auf einer Lesung zu mir kam und sagte: „Ich bin weder schwul noch bipolar oder HIV-positiv. Aber darum geht es gar nicht. Dein Buch hat mir sehr geholfen, da es eine Haltung vermittelt, wie man mit Problemen im Leben umgeht.“ Und Sebastian Schlösser, dessen Buch „Lieber Matz, Dein Papa hat ‘ne Maise“ mir damals die Einsicht schenkte, dass ich krank bin, sagte nicht nur: „Torsten, dein Buch ist so wunderbar lebensbejahend geschrieben“, sondern sprach sogar davon, dass es sich für ihn so anfühlt, als würde er den Staffelstab an mich weiterreichen. Aber:

Jeder einzelne Moment ist kostbar. Jeden Menschen, den ich im Geist bewegen, dem ich Mut machen und Zuversicht schenken konnte, aber auch jedes Stigma, das ich von dieser Welt verbannt habe, ist ein Moment, der zeigt, dass es richtig war, meine Geschichte zu erzählen. 

Eine Sache, die dein Buch besonders auszeichnet, ist deine humorvolle Grundhaltung schweren Themen gegenüber. Was macht Humor deiner Meinung nach zu einer guten Bewältigungsstrategie?

In der Tat beschreibe ich mich selbst gerne als lebensbejahenden, pragmatischen Optimisten. Meine 100-jährige Oma sagt immer: „Jammern hat noch nie jemandem geholfen.“ Recht hat sie. Und bevor man eine Situation jammernd durchleidet, kann man sie doch besser lächelnd erleben. Vor vielen Jahren habe ich mal in einem Führungsseminar gelernt: Wenn man im Stau steht, kann man entweder fluchen oder man macht das Radio mit seinem Lieblingslied an und singt laut mit. Die Zeitspanne, die man im Stau steht, ist dieselbe – das WIE jedoch ist ein anderes. Und genau darum geht es: Humor lässt uns das Leben so wunderbar besser erleben.  

Sicher gibt es auch heute noch Tage, an denen dich düstere Gedanken heimsuchen. Wie gehst du damit um?

Ich habe das große Glück, 2014 den Weg ins Zentrum für Seelische Gesundheit in Stuttgart Bad Cannstatt gefunden zu haben. Dort bin ich nahezu ein Jahr von Professor Dr. Dr. Bürgy und seinem Team nachhaltig therapiert worden. Bei meinen quartalsmäßigen Terminen wird mir jedes Mal aufs Neue eine unglaubliche mentale Stabilität bescheinigt. Somit bin ich wohl einer der wenigen Menschen, der seit dem Verlassen der Klinik Ende 2014 keine düsteren Gedanken mehr hatte.    

Du wirkst an verschiedenen Projekten der queeren Community in und um Stuttgart mit. Worauf können wir uns dieses Jahr noch freuen? Wo trifft man dich?

Als Vorstand der Aidshilfe Baden-Württemberg e.V. habe ich ein Ehrenamt, in welchem ich jeden Tag aufs Neue versuche, mich als offen positiv lebender Mensch für die Menschen, die in diesem Kontext Hilfe benötigen, einzusetzen. In dieser Funktion versuche ich, immer wieder den Gedanken der Hilfe für Menschen in den Vordergrund zu stellen und würde mir wünschen, dass in dem ein oder anderen Moment persönliche Befindlichkeiten Einzelner der Arbeit der Aidshilfe insgesamt nicht im Weg stehen.

Ein wenig stolz bin ich, dass mein Buch den Weg über die Stadtgrenzen Stuttgarts in die Republik gefunden hat. Gelesen wird es aktuell von Antwerpen bis Zürich. Gereist ist es in die Karibik, nach Südafrika, Venezuela und an viele andere Ort der Welt. Umso mehr freue ich mich, mit meinem Buch auf Tour zu sein. So werde ich in Karlsruhe und Frankfurt im Rahmen des Weltaidstages lesen. Das SchwuZ in Berlin hat mich im Rahmen der „mental illness awareness week“ gebucht. In Hannover gibt es einen Talkabend. Weitere Termine in Köln, Hamburg und Wien sind aktuell in Absprache. 

Letztes Jahr hieß es: 40 Jahre HIV und AIDS. Mit anderen Worten: Diese Krankheit ist nahezu genauso lange auf der Welt wie ich es bin. Allerdings hatte Corona die vergangenen zwei Jahre jeglichen Fokus auf sich gezogen. So entschied ich, eine Aktionswoche zum Weltaidstag zu organisieren. Ich habe nicht nur die Plakate der Deutschen Aidshilfe der letzten vier Jahrzehnte von Berlin nach Stuttgart, sondern auch Stuttgarts queeren Social-Media Aktivisten Claudius von Sissy That Talk mit ins Boot geholt. Unterstützt wurden wir von der Aidshilfe Baden-Württemberg. Innerhalb unserer „FIGHT THE STIGMA“-Aktionswoche reichte das Programm von der Plakatausstellung über Buchlesungen, Filmabend, Politik- und PrEP-Talkabend, Live-Podcastaufzeichnung der DeutschenAidshilfe mit mir zum Thema „selbstverständlichpositiv“ bis hin zu einem Dragqueencontest. Aktuell sind Claudius und ich dabei, ein Event zu organisieren, auf dem die einstündige Reportage, die während unserer Woche entstanden ist, gezeigt wird. Spätestens zum Weltaidstag wird man von unserem Projekt FIGHT THE STIGMA etwas sehen und hören. 

Möchtest du sonst noch etwas loswerden?

Bis mein Buch „einfach!ch BeziehungsWaise“ fertig ist oder ihr mehr über „einfach!ch Haltung bewahren“ erfahrt, lege ich euch meine neue Kolumne „einfach!ch Gedankensplitter by Torsten Poggenpohl“ und natürlich mein Buch „einfach!ch schwul.bipolar.positiv.“ ans Herz. Wie ich hörte, vermittelt es Haltung.

Meine persönlichen Wünsche für die nahe und ferne Zukunft sind Gesundheit, Frieden auf der Welt und weniger Neid und Missgunst. 

MEHR INFOS:
https://torstenpoggenpohl.de