WELLENREITEN AM NECKARUFER

EINTAUCHEN UND ABTANZEN

Der Tresor vom Neckar – auch diese Überschrift hätte man für den folgenden Beitrag wählen können. Aber warum Berlin zu Rate ziehen, wenn die Musik in Stuttgart spielt. Dort, wo sich fünf verrückte Jungs mit Teamgeist und Kreativität vorgenommen haben, die elektronische Clubszene wiederzubeleben. Mehr noch: ihr ein neues Gesicht zu geben. Tauchen wir ein, in eine Nacht voller einzigartiger Momente. 

Gerade mal 90 Minuten zuvor hatte die Wahl-New-Yorkerin Suzanne Vega als Zugabe den Lou-Reed-Klassiker „Walk on the Wildside“ ins Mikro des Stuttgarter Theaterhauses gehaucht und Bruce „The Boss“ Springsteen mit „Born in the USA“ vor 80.000 Besuchern den Hockenheimring gerockt. Doch nun spielt die Musik woanders. Dort, wo sich die Lichter der Großstadt im Wasser spiegeln. 

Auf der einen Seite die B10 und der große Gaskessel, auf der anderen Seite das Stadion, in dem der VfB seine Heimspiele absolviert und die Firma mit dem Stern, der nicht nur nachts leuchtet, ihren Stammsitz hat. Ende Juli, ein Freitag, genau 22.59 Uhr. Noch eine Minute, bevor alle vom Oberdeck ins Unterdeck strömen, um abzutauchen. Einzutauchen in eine andere Welt. Die Welt von Fridas Pier.

„Keine Fotos vom Dancefloor. Die Leute sollen herkommen und den Flair selbst erleben“,

weist Gründer und Geschäftsführer Benjamin „Benny“ Kieninger höflich am Anfang unseres Gesprächs hin. Doch bevor wir dort hingehen, wo nationale DJ-Größen wie Karotte und Perel sowie internationale Acts wie Adam Beyer und Bart Skils regelmäßig ihre Sets abliefern, sitzen wir draußen in einer loungigen Ecke von Bennys Traumfabrik und sprechen darüber, wie alles begann.

Fünf Freunde beleben die Subkultur

Alles begann mit einer Idee. Einer großen Idee. Der Idee, Subkultur nach Stuttgart zu bringen auf eine Art und Weise, die nicht beliebig, schnelldrehend und austauschbar ist, sondern pointiert, hochwertig und stilsicher. „Stuttgart hatte nicht viel zu bieten, was in diese Richtung ging. Viele Talente haben die Stadt verlassen. Ich war auch kurz davor, abzuhauen, bevor ich mich vor fünf Jahren entschied, das Projekt Boot-Umbau zu übernehmen“, berichtet der 41-Jährige.

Benjamin „Benny“ Kieninger ist überzeugt von seinem Projekt. Mit Fridas Pier hat er für sich und seine Gäste einen neuen Heimathafen geschaffen. © Fred Nemitz

Gemeinsam mit vier Bekannten wagte Benny das große Abenteuer und kaufte einen alten Frachtkahn, Baujahr 1960, 80 Meter lang und 8 Meter breit, mit dem früher Kohle und Kies transportiert wurde. Einst als Havarie-Schiff ausgemustert, brachten sie es gemeinsam in Heilbronn zwei Jahre lang auf Vordermann, entkernten von Grund auf, bauten Treppenhaus und Toiletten, eine Bar mit Klimaanlage sowie ein Notstromaggregat ein. Alles brandschutzkonform, analog den Vorgaben von Versammlungsstätten auf dem Festland.

Und wie so oft, merkten die Freunde erst beim Tun, wie viel Zeit und Geld so ein Projekt kostet. „Wir waren blauäugig. Fünf verrückte Jungs eben. Wir haben angefangen, herumzubasteln und dann gemerkt, so funktioniert das nicht. Wir brauchten Kohle und haben externe Geldgeber ins Boot geholt – im wahrsten Sinne des Wortes“, berichtet Benny. Weit über eine Million Euro ist mittlerweile in den Um- und Ausbau des Schiffes und die darum bestehende Peripherie geflossen.

Stilikone weiht Soundanlage ein

Herzstück des Schiffes, musikalisch betrachtet, ist damals wie heute die Funktion-One, eine der klangvollsten Soundanlagen, die der Markt aktuell zu bieten hat. Der Apple unter den Anlagen, wie Benny sagt. Es kommen wohl tatsächlich Leute nur deswegen vorbei. So wie Tony Andrews, Techniklegende und eben Gründer von Funktion-One. Der flog extra gemeinsam mit seiner Frau von der Themse an den Neckar und ließ es sich nicht nehmen, zwei Tage lang Tipps und Tricks für den perfekten Sound zu geben und die Anlage persönlich einzuweihen. 

„Wir haben das Schiff zu Gunsten des Sounds umgebaut. Winkel und Akustikpaneele wurden so berechnet, dass der Sound perfekt ist“,

sagt Benny mit Stolz. Was auf dem Unterdeck dafür sorgt, dass die Besucher im Rausch der Klänge Raum und Zeit vergessen, ist auf dem Oberdeck kein Störfaktor. Denn 90 Prozent ist Westwind. Der Sound geht ins Nirwana, Anwohner fühlen sich nicht gestört. Ein perfekter Ort also, um voll aufzudrehen. Auch die Lichtanlage ist eine Eigenkreation und symbolisiert bereits zwischen Bar und Dancefloor das Eingangstor zu einer anderen Welt. 

Allein auf dem Unterdeck können 600 Piraten und Strandnixen zu elektronischer Musik abfeiern. Das gesamte Areal (Oberdeck in chilliger Strandbar-Optik) bietet weiteren Besuchern Platz zum Verweilen. © Fred Nemitz

Corona-Bremse wird zum Kreativitätsbooster

2019 war dann alles fertig, für Ende März 2020 die Eröffnungsparty geplant. Doch der Ausbruch von Corona und der anschließende Lockdown machten einen Strich durch die Rechnung. Schicht im Schacht. „Es war eh alles Spitz auf Knopf. In dieser Situation mussten wir dann viel Überzeugungsarbeit bei Gesellschaftern und Banken leisten und kreative Ideen suchen, um zu überleben.“ 

Benny und Freunde fackelten also nicht lange. Sie holten sich eine Sondergenehmigung fürs Festland, schafften Container und Garnituren ans Neckarufer und machten im Sommer 2020 für zwei Monate auf: mit einem corona-konformen Biergarten mit 200 Sitzplätzen. „Hat funktioniert, zwar anders als gedacht, aber so haben wir uns über Wasser gehalten.“ Als Vorstand der lokalen Diskotheken-Vereinigung war er bereits damals im engen Austausch mit anderen Locationbetreibern, die vor ähnlichen Herausforderungen standen. 

Trotz aller Ideologie und Kreativität ist Fridas Pier ein Unternehmen und wird auch wie ein Unternehmen geführt. Einnahmen aus Corporate Events mit Unternehmen aus der Region wie Porsche und Mercedes bilden neben Bankdarlehen und Investorengeldern den finanziellen Grundstock. Ohne sie wäre es schwieriger, auch, um die harten Wintermonate zu überbrücken. Zwar ist da geöffnet. Das Level der Sommermonate was Besucherzahlen und Events angeht wird jedoch bei weitem nicht erreicht. 

Die Menschen vor und hinter den Kulissen

Entspannt und souverän sorgen Alessa und Stefan – zwei von über insgesamt 40 Mitarbeitenden bei Fridas Pier – für das Wohl der Gäste. © Fred Nemitz

Das eine gute Location nur so gut ist wie seine Mitarbeiter – dieses Credo gilt auch bei Fridas Pier. Zwei von ihnen treffe ich auf dem Unterdeck: Alessa und Stefan. Sie sorgen mit klarem Durchblick, entspannter Gelassenheit und vielen freundlichen Worten für das Wohl der Gäste. Alessa, gelernte Industriekauffrau für Messtechnik, ist seit drei Jahren an Bord. Warum Nightlife, warum hier? „Weil hier coole Leute unterwegs sind und es sich nicht wie Arbeit anfühlt.“

Stefan, der hauptberuflich Sounddesigner ist und die Gaming-Community mit eigenen Klangwelten versorgt, steht seit vier Jahren hinterm Tresen. Der gebürtige Ludwigsburger spielte, inspiriert u.a. von Rage Against the Machine und Nirvana, bis zur Auflösung im Jahr 2009 in einer Heavy-Metal-Band. Nun sind es eher die elektronischen Klänge, die ihn wachhalten. „Benny und ich gingen ins selbe Fitnessstudio. Als wir in der Sauna saßen, fragte er mich, ob ich mitmachen würde. Ich meinte nur: Wenn Du das durchziehst, bin ich dabei.“ Das erste Jahr bei 30 Grad mit Maske hinter dem Ausschankwagen sei schon hart gewesen. Aber nun sei ja alles wieder im Normalbetrieb. Die Leute wollen feiern, Spaß haben, Gas geben oder einfach nur relaxen. Beste Voraussetzungen für ein gutes Clubklima.

Respekt, Toleranz und Achtsamkeit

Auch Benny liegt es am Herzen, dass sich alle wohlfühlen – sowohl die Belegschaft als auch die Gäste. Das sei ihm ganz wichtig, betont er. „Wir legen großen Wert auf Respekt, Toleranz und Achtsamkeit.“ Die Leute kommen hier nicht per Zufall vorbei, sondern weil sie sich bewusst dafür entschieden haben. Also kein Laufpublikum, sondern gezielte Wahl. Daher auch der Vorverkauf und die Abendkasse, die ausschließlich online funktioniert. Donnerstag und Sonntag ist der Eintritt sogar frei. 

Neben den wöchentlichen DJ-Sets gibt es hin und wieder auch mal eine Afterwork-Party, eine Sex-Positive-Party mit Dresscode oder eine Motto-Party zu Anlässen wie Halloween. Sogar vor Einschulungs- und Geburtstagsparties schreckt Benny, der in der Mikrochipherstellung gelernt, später in der Agenturwelt gearbeitet und zum Schluss in der Getränkebranche unterwegs war, nicht zurück. „Im Januar hat meine 13-jährige Tochter hier mit ihren Freundinnen Geburtstag gefeiert. Die Mädels durften an das Mischpult, haben einen DJ-Workshop absolviert.“ Für Benny was ganz Normales. „Wenn die Idee, das Konzept hierher passt und wir Bock draufhaben, sind wir für fast alles zu haben“.

Zum Ende unseres Gesprächs bitten wir ihn, einen Aufruf zu starten, einen Weckruf zu senden. An all jene, die dieses Fleckchen noch nicht für sich entdeckt haben. „Wir haben es für Stuttgart gemacht. Kommt gerne hierher, benehmt euch, habt Spaß und respektiert alle hier. Und Berlin? Kommt vorbei. Ihr seid herzlich eingeladen. Es gibt ja das 49-Euro-Ticket. Auch hier erlebt ihr Subkultur.“ Man kann also sagen: In Stuttgart daheim – in der Welt zu Hause. Und eins ist klar: Benny und seine Freunde haben ihren Platz gefunden. Einen Platz an der Sonne, einen Platz am Neckarufer – dort, wo die Freunde der Nacht eintauchen, um abzutanzen. 

Diese Botschaft geht an alle, die mit Marusha, Dr. Motte und der Loveparade groß geworden sind oder zumindest schon mal davon gehört haben. © Fred Nemitz

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